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Titelthema - Leitartikel

Zuckerbrot und Peitsche

Nachhaltigkeit? Eigentlich ein Thema, das in der DNA jedes langfristig denkenden Unternehmens stecken müsste und in dessen ureigenem Interesse ist. Jedes Unternehmen ist schließlich nur dann auf lange Sicht erfolgreich, wenn es sich auf zufriedene und engagierte Mitarbeiter:innen stützen kann, sich rechtskonform und umweltfreundlich verhält und gleichzeitig wettbewerbsfähig ist. Das gilt für kleine wie große, regional wie weltweit agierende Unternehmen! Also ein Selbstläufer? Nein! Die Politik macht Druck und hat ihre eigenen Vorstellungen.

Peitsche: Neue Regelungsflut

Der 11. Dezember 2019 gilt als Geburtsstunde des „European Green Deal“. Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission, stellte ihr Konzept für die grundlegende ökologische Umgestaltung und Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft vor. Das Ziel ist, bis 2050 ein durch und durch nachhaltiges Europa zu schaffen.

Mit zahlreichen Rechtsakten will die Kommission dem Klimawandel, dem Artenschwund und der zunehmenden Rohstoffknappheit entgegenwirken und für einen bewussteren Umgang mit den natürlichen Ressourcen sorgen. Schlag auf Schlag werden aktuell bestehende Regelwerke überarbeitet und geschärft oder neue auf den Weg gebracht. Mit der Revision der europäischen Chemikalienverordnung REACH und weiteren Stoffbeschränkungen und -verboten soll beispielsweise das Ziel eines schadstofffreien Europas verwirklicht werden. Der Verwendung von Kunststoffen sagt die Kommission in vielen Bereichen den Kampf an. Mit produktspezifischen Maßnahmen soll die Nachhaltigkeit in bestimmten Branchen vorangetrieben werden. Über die Ökodesignrichtlinie sollen für voraussichtlich alle Produkte Vorgaben für die Recyclingfähigkeit und Reparierbarkeit eingeführt werden. Ein digitaler Produktpass soll über die eingesetzten Materialien und Reparaturmöglichkeiten informieren und den Lebenszyklus des Produkts dokumentieren. Die Gebäudeeffizienz-Richtlinie soll zu einem Sanierungsschub führen.

Transparenz und Finanzierung als Hebel

Für mehr Transparenz und Vergleichbarkeit bei den Nachhaltigkeitsaktivitäten von Unternehmen und der Nachhaltigkeit von Finanzprodukten setzt die EU-Kommission auf das Instrument der „Sustainable Finance“. Über die sogenannte EU-Taxonomie und die geplante Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichtserstattung sollen zunächst alle Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten (Nicht-KMU) verpflichtet werden, ihre Nachhaltigkeit nach einheitlichen Maßstäben zu bewerten und offenzulegen. Das führt aus Sicht vieler betroffener Unternehmen zu einer überbordenden Bürokratie – ohne echten Nutzen zu erzeugen. Banken und Versicherungen sollen ihre Finanzierungen stärker an Nachhaltigkeitskriterien orientieren. Das könnte zu Einschränkungen bei der Finanzierung von notwendigen Investitionen auch in kleinen und mittelständischen Unternehmen führen.

Zuckerbrot: Nachhaltigkeit als Chance

Um die Transformation der Wirtschaft voranzutreiben und Innovationen für grüne Konzepte und Produkte anzuschieben, stellt die EU eine umfassende Förderung in Aussicht. Das ist angesichts der großen Herausforderungen und Investitionsbedarfe auch notwendig. Im öffentlichen Fokus sind vor allem die „großen Räder“, z. B. der Einsatz von Wasserstoff zur Stahlerzeugung oder die Dekarbonisierung der Beton- oder Zementherstellung. Dabei darf die EU die unzähligen kleineren Unternehmen nicht aus den Augen verlieren. Auch sie müssen ihre Prozesswärme umstellen und mittelfristig ihre Anlagen elektrifizieren oder auf erneuerbare Wärme setzen. Bei den Gebäuden muss die Wärmewende im Bestand gelingen. Hier geht es vor allem um Dämmung und den Ersatz von fossilen Heizungen durch erneuerbare. Ein riesiges Potenzial für innovative Produkte und Verfahren, die dann in alle Welt exportiert werden können.

Unternehmen, die zum Beispiel heute schon biobasierte oder kreislauffähige Materialien entwickeln, Produkte für die Energiewende herstellen oder langlebige Konsumgüter anbieten, haben hier einen Vorsprung, den sie jetzt nutzen können. Denn die Nachfrage nach nachhaltigen Lösungen wächst gewaltig. Zahlreiche Förderprogramme ebnen den Weg zusätzlich.

Die aktuellen Krisen erweisen sich dabei als Motor und Bremser zugleich. Ein Beispiel ist der Boom bei Photovoltaikanlagen und Wärmepumpen. Wegen der massiv steigenden Energiepreise und künftiger rechtlicher Anforderungen wollen immer mehr Unternehmen und Bürger:innen jetzt investieren. Der Wermutstropfen: Die Lieferketten funktionieren nach wie vor nicht und im Handwerk fehlen die Fachkräfte. Dabei wäre es dringend notwendig, dem Klimawandel massiv zu begegnen - weltweit.

Wunsch: Mehr Luft lassen

Mit dem Green Deal setzt die EU-Kommission auf ein Langfristkonzept, das den Weg in eine nachhaltigere Wirtschaft weisen soll. Vor dem Hintergrund des fortscheitenden Klimawandels und zunehmender Rohstoffknappheiten die richtige Entscheidung. Dadurch weiß die Wirtschaft grundsätzlich, wo es lang geht. Wichtig ist, dass die EU dabei die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft im Blick behält und die Innovationskraft stärkt.

Aktuell besteht die Gefahr, dass die EU-Kommission mit ihren teils sehr weitreichenden Regelungen sowie nicht aufeinander abgestimmten Melde- und Nachweispflichten weit über das Ziel hinausschießt und die Wirtschaft überfordert.

Wünschenswert wäre, wenn die EU - neben klaren, aber umsetzbaren Vorgaben - stärker auch auf Anreize für ein freiwilliges Handeln setzen würde.

   

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