Lippe Wissen und Wirtschaft

Standpunkt

Gehen uns die Kräfte aus?

Es ist höchste Zeit, die Realität beim Namen zu nennen: Wir stehen in Lippe vor einem Fachkräfteproblem, das nicht mehr durch wohlmeinende Projekte oder „irgendwie wird’s schon“-Haltung zu lösen ist. Über 150 unbesetzte Ausbildungsplätze beim diesjährigen Lehrstellenendspurt sind kein Betriebsunfall – sie sind Symptom einer Bildungspolitik, die zu lange zugesehen hat, wie die betriebliche Ausbildung an den Rand gedrängt wird, und zudem nur die Spitze des Eisberges.

Wer glaubt, dass eine Ausbildungsabgabe die Lösung ist, irrt. Man kann Unternehmen nicht dafür bestrafen, dass sie keine Auszubildenden finden – wenn es schlicht zu wenige passende Bewerber gibt. Das ist kein Mangel an Willen, sondern ein Versagen im Zusammenspiel von Schule, Berufsorientierung und Anschlussregelungen.

Wir brauchen eine politische Kehrtwende: verbindliche, praxisnahe Berufsorientierung ab der Mittelstufe, über KAoA hinaus. Eine Schulentwicklungsplanung, die Berufskollegs im ländlichen Raum nicht kaputtspart, sondern als Rückgrat der Fachkräftesicherung versteht. Eine klare Aufwertung der dualen Ausbildung gegenüber dem einseitigen Drängen auf akademische Wege. Und wir müssen die Höhere Berufsbildung mit Bachelor und Master Professional endlich so sichtbar machen, wie sie es verdient – als echte Karrierewege, nicht als Fußnote im Bildungssystem.

Wer jetzt nicht handelt, riskiert mehr als unbesetzte Lehrstellen. Wir verlieren die Generation, die unsere Betriebe in zehn Jahren tragen soll. Wir verlieren die Strukturen, die jahrzehntelang die Stärke des deutschen Modells ausgemacht haben. Und wir verlieren die Glaubwürdigkeit, wenn wir jungen Menschen Orientierung versprechen und sie dann im Dickicht aus Wahlpflichtkursen, Anschlussmodellen und leer gefegten Berufskollegs stehen lassen.

Bildungspolitik muss endlich begreifen: Ausbildung ist keine Restgröße, die übrigbleibt, wenn Abitur und Studium nicht passen. Sie ist gleichwertig – und sie ist überlebenswichtig für diese Region. Wer daran spart, spart an der Zukunft Lippes.

Ohne Ausbildung geht uns nicht nur der Nachwuchs aus – es fehlen auch die Kräfte, die Lippe tragen.

 

   

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