Lippe Wissen und Wirtschaft

Titelthema - Leitartikel

Wenn Ausbildung verloren geht – verlieren wir mehr als nur Bewerber

Es beginnt nicht mit einer Zahl. Es beginnt mit einem leeren Stuhl.

Ein Ausbildungsplatz ist eingerichtet. Die Werkzeuge liegen bereit. Der Vertrag liegt vor. Doch niemand kommt.

Betriebe schalten Anzeigen, gehen in Schulen, präsentieren sich auf Messen – und erhalten keine Bewerbungen. Oder sie bekommen eine – von jemandem, der gar nicht erscheint. Manchmal wird im letzten Moment abgesagt, weil sich ein anderer Weg auftut. Was wie ein Einzelfall klingt, ist Alltag geworden. Auch in Lippe.

Zahlen, die nicht trösten

Ende Juli 2025 standen im Kreis Lippe 502 Ausbildungsplätze unbesetzt – trotz 443 ausbildungsinteressierter Jugendlicher. Rein rechnerisch fast ausgeglichen, in der Realität aber ein klares Missverhältnis. Gespräche verlaufen im Sande, Zusagen werden zurückgezogen, Erwartungen passen nicht zusammen. In Ostwestfalen-Lippe insgesamt kamen nur 86 Bewerberinnen und Bewerber auf 100 offene Ausbildungsplätze. Das ist kein kleiner Versatz – das ist ein struktureller Engpass.

Der IHK-Fachkräftemonitor NRW prognostiziert für Lippe bis 2035 ein Defizit von fast 10.000 Fachkräften. Besonders betroffen: Berufe, in denen qualifizierte Fachkräfte mit beruflicher Ausbildung unverzichtbar sind – also genau die Bereiche, die durch ein starkes duales System gesichert werden müssten.

Ein kulturelles Problem

Die Ursache ist nicht nur Demografie. Es ist ein kultureller Trend: Ausbildung gilt oft als „zweite Wahl“, während Studium oder schulische Bildung das Ideal darstellen. Eltern, Schulen und Berufsberatungen – oft ungewollt – verstärken dieses Bild. Die Folge: Jugendliche nutzen Anschlussmodelle, um Orientierung zu gewinnen, schulische Ausbildungsgänge als Lern- und Erfahrungsraum zu erschließen oder zusätzliche Unterstützung zu erhalten, bevor sie ihre berufliche Laufbahn beginnen. Viele fühlen sich „nicht ausbildungsreif“ – oder wissen nicht, was sie in einer Ausbildung erwartet.

Viele fühlen sich „nicht ausbildungsreif“ – oder wissen nicht, was sie in einer Ausbildung erwartet.

Dabei geht es nicht nur um wirtschaftliche Folgen. Wenn Ausbildung abgewertet wird, verlieren wir auch gesellschaftlich: Aufstiegschancen für junge Menschen werden geringer, Integration in den Arbeitsmarkt schwieriger, soziale Stabilität brüchiger. Ausbildung ist mehr als Qualifikation – sie ist Bindung, Zugehörigkeit, Selbstständigkeit. Wer diese Basis schwächt, gefährdet das Vertrauen in den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Bedrohte Bildungsstrukturen

Hinzu kommt: Die Berufskollegs geraten durch rückläufige Schülerzahlen unter Druck. Es geht längst nicht mehr nur um Klassen, sondern um ganze Bildungsgänge. Wenn wir nicht gegensteuern, verlieren wir zentrale Bildungsinfrastruktur im ländlichen Raum – und damit die Chance, wohnortnahe und vielfältige Ausbildung zu sichern.

Was jetzt passieren muss

Die Diagnose ist klar – entscheidend ist die Handlung. Wenn wir verhindern wollen, dass Ausbildung weiter an Bedeutung verliert, braucht es ein gemeinsames Vorgehen:

Politik und Verwaltung müssen Schulentwicklungsplanung, ÖPNV und digitale Infrastruktur so ausrichten, dass Ausbildung erreichbar und attraktiv bleibt. Schulen brauchen verbindliche Berufsorientierung, die nicht bei Projektwochen endet, sondern Jugendliche systematisch vorbereitet. Unternehmen müssen Ausbildung sichtbar machen, klare Erwartungen kommunizieren und attraktive Rahmenbedingungen schaffen. Die IHK wird ihre Rolle nutzen, um Betriebe zu unterstützen, Netzwerke zu stärken, Berufsbildung sichtbar zu machen und Weiterbildung als gleichwertigen Karriereweg zu verankern.

Weiterbildung als Schlüssel

Dazu gehört auch, Ausbildung nicht als Sackgasse darzustellen. Wer sich für eine Lehre entscheidet, muss wissen: Der Weg kann weitergehen – über die Höhere Berufsbildung. Mit Abschlüssen wie dem Bachelor Professional oder dem Master Professional, die im Berufsbildungsgesetz verankert sind, gibt es bundesweit anerkannte und praxisnahe Alternativen zum Studium. Sie eröffnen Führungs­verantwortung, sichern Fachkräftebindung und schaffen neue Aufstiegschancen.

Gerade kleine und mittlere Betriebe können davon profitieren – wenn die Politik für mehr Sichtbarkeit sorgt, die Förderung stärkt und digitale Lernformate möglich macht. Denn Weiterbildung ist keine Nebensache, sondern der zweite Schritt, der Ausbildung aufwertet und jungen Menschen eine echte Perspektive eröffnet.

Kein Raum für Passivität

Ein mittelständischer Betrieb aus dem Maschinenbau berichtet: Noch vor fünf Jahren kamen auf eine Stelle fünf Bewerbungen. Heute bleibt trotz Infoveranstaltungen, Schulkooperationen und Social Media am Ende oft nur ein einziger Kontakt – verbunden mit der Unsicherheit, ob der Vertrag unterschrieben und die Probezeit überstanden wird. Diese Realität teilen viele Branchen.

Darauf können wir nicht nur mit Sorge reagieren. Jetzt ist die Zeit für neue Bündnisse und klare Entscheidungen: Ausbildung gehört wieder ins Zentrum – nicht nur auf dem Papier, sondern im Alltag.

Denn eines ist klar: Wenn wir heute nicht investieren – in Menschen, in Bildungswege, in Berufsorientierung – dann zahlen wir morgen den Preis. In Form von Fachkräftemangel, wachsender Perspektivlosigkeit und einem immer größeren Abstand zwischen dem, was möglich wäre – und dem, was real ist.

 

   

Die aktuelle Ausgabe zum Durchblättern