Lippe Wissen und Wirtschaft

Titelthema - Leitartikel

Langer Atem erforderlich

Trauriger Rekord bei der Gletscherschmelze in den Alpen, Wanderer „im“ Gardasee, verdorrte Böden nach monatelange Winterdürre in Frankreich, Frühlingshitze in Spanien. Und der Sommer hat noch nicht einmal begonnen ... Der Klimawandel ist spür- und sichtbar. Was ist zu tun?

Europa zählt neben einigen Regionen in Afrika und der Arktis zu den Weltregionen, die sich besonders stark erwärmen. Das zeigt auch der aktuelle Synthesebericht, den der Weltklimarat im März 2023 veröffentlicht hat. Mit den aktuellen Maßnahmen steuert die Welt auf ein Temperaturplus von 3,2 °C im Jahr 2100 zu. Um das Pariser 1,5 Grad-Ziel zu erreichen, müsste die Weltgemeinschaft bis 2030 die Emissionen um die Hälfte senken. Schnelles Handeln ist angesagt.
Das fordert auch der von der Bundesregierung berufene Expertenrat für Klimafragen. In seinem jüngsten Gutachten hat er festgestellt, dass insbesondere die Sektoren Gebäude und Verkehr hinterherhinken. Zudem wurde wegen des Ukrainekriegs wieder mehr Kohle verfeuert. Die Industrie habe ihre Minderungsziele nur deswegen erreicht, weil energieintensive Unternehmen wegen der hohen Energiekosten ihre Produktion gedrosselt hätten. Ob Deutschland seine Klimaziele 2030 erreichen kann, sei fraglich. Es müsse in allen Sektoren vorangehen.

Nicht nur Erneuerbare ausbauen

Im April hat Deutschland die letzten Kernkraftwerke vom Netz genommen. Der Ausstieg aus der Kohle ist beschlossene Sache. Wenn – wie von der Bundesregierung gewünscht – im Jahr 2030 also 15 Millionen Elektroautos auf Deutschlands Straßen rollen sollen, jährlich 500.000 Wärmepumpen mehr für Wärme sorgen sollen und Wasserstoff der Stoff der Träume werden soll, dann müssen die Erneuerbaren Energien schnell massiv ausgebaut werden – auch in Ostwestfalen-Lippe. Aber nicht nur die, sondern auch die Stromnetze und der Kraftwerkspark. Eine aktuelle Studie zur Versorgungssicherheit im Jahr 2030 im Auftrag der IHK NRW zeigt, dass die Ausbaupläne der Bundesregierung prinzipiell eine sichere Versorgung gewährleisten. So weit so gut. Mehr als fraglich ist allerdings, ob es gelingt, bis 2030 Gaskraftwerke mit den erforderlichen 21 Gigawatt Leistung zu bauen. Nicht nur, weil es Jahre braucht bis zur Inbetriebnahme, sondern auch weil das Marktmodell dafür noch nicht steht. Wer will unter diesen Voraussetzungen investieren?

Rahmenbedingungen schaffen

Die beabsichtigte Transformation der Energiewirtschaft, aber auch der Industrie hin zur Klimaneutralität braucht passende Rahmenbedingungen. Wegen des hohen Zeitdrucks ist die Bundesregierung gezwungen, viele Baustellen gleichzeitig zu bearbeiten. Untätigkeit dabei kann man ihr dabei nicht vorwerfen: Vereinfachungen bei der Genehmigung von Erneuerbare Energien (EE) Anlagen, Gebäudeenergiegesetz, Energieeffizienzgesetz, Klimaanpassungsgesetz, Strategien zum EE-Ausbau, Modelle für Differenzkontrakte (Contracts for Difference - CfD) … Innerhalb kürzester Zeit werden Entwürfe durch die erforderlichen Beteiligungsverfahren gejagt. Da bleibt schon mal das Feintuning auf der Strecke. Es werden Fehler gemacht, die dann öffentlich genüsslich zerpflückt werden. Problematisch dabei ist, dass die Notwendigkeit des Handelns in den Hintergrund rückt. So geschehen zum Beispiel bei der überzogenen Diskussion um den Heizungstausch.

Unternehmen handeln

Dass gehandelt werden muss, ist den meisten Unternehmen in Lippe klar. Sie investieren aktuell kräftig in die Eigenerzeugung, beispielsweise mit Photovoltaik vom eigenen Dach. Sie sparen Energie durch Effizienzmaßnahmen ein. Sie gewinnen Wärme aus ihren Prozessen zurück und denken über alternative Wärmeerzeugung nach. Was sie nicht brauchen, sind zu enge und unrealistische staatliche Vorgaben – etwa durch eine Pflicht zur Abwärmenutzung wie ursprünglich im Energieeffizienzgesetz angedacht. Und was sie auch nicht brauchen, sind immer mehr bürokratische Berichtspflichten, die durch die europäische Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung drohen. Das bindet die ohnehin engen Personalkapazitäten, die sie lieber produktiv einsetzen würden.
Besser wäre es, die Unternehmen auch im Mittelstand aktiv dabei zu unterstützen, die Transformation zur Klimaneutralität zu bewältigen und gleichzeitig wettbewerbsfähig zu bleiben.

Vorbildlich im Netzwerk

Mittlerweile über 70 Unternehmen aus Ostwestfalen Lippe wollen in der OWL-Klimainitiative „gemeinsam klimaneutral 2030“ der IHKs zeigen, dass sie bereit sind, den Weg zur Klimaneutralität schneller zu gehen. Jährlich übermitteln sie für die Scopes 1 und 2 Bilanzdaten zu Energieverbräuchen und CO2-Emissionen an die IHKs und sorgen so für mehr Transparenz. So haben die Netzwerk-Unternehmen im Basisjahr 2021 insgesamt 376 Gigawattstunden Strom verbraucht, davon stammten knapp 80 Prozent aus erneuerbaren Quellen. Insgesamt haben sie 2021 an den betrachteten Standorten gut 108.000 Tonnen CO2 äqu emittiert. Es gibt also auch hier noch etwas zu tun. Aber bis 2030 ist ja auch noch ein bisschen Zeit.

   

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