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Selbstgestecktes Ziel der Bundesregierung ist es, die Bürokratie effizienter, digitaler und schneller zu machen. Das ist im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien festgeschrieben. Entsprechend wurden und werden sogenannte Bürokratieabbau- und Bürokratieentlastungsgesetze fast wie im Fließband erlassen oder angekündigt. Darin enthalten sind vornehmlich Streichlisten bei den Informations-, Dokumentations- und Antragspflichten. Doch allein mit dem Rotstift in der Hand können Bürokratiemonster nicht besiegt werden.

Erfolgreicher Bürokratieabbau setzt einen gesamtgesellschaftlichen Geisteswandel voraus. Für weniger Bürokratie sind zunächst grundsätzlich alle. Das ändert sich spätestens dann, wenn jemand durch eine Gesetzeslücke einen persönlichen Nachteil empfindet. Dann kommt der Ruf postwendend: „Das muss doch irgendwo (zu meinen Gunsten) geregelt sein!“ Die gesetzliche Überregulierung ist somit nicht zuletzt ein Ausfluss eines bestehenden Anspruchsdenkens der Bürger:innen. Es hat sich bei vielen der Wunsch etabliert, für möglichst jeden Sonderfall im Gesetz eine Lösung zu finden. 

Die Politik lässt sich oft dazu verleiten, allen Wähler:innen gerecht werden zu wollen. Der Wirbel um die Reform des Gebäudeenergiegesetzes, besser bekannt als Heizungsgesetz, ist ein Paradebeispiel. In einem ersten Entwurf war noch klar bestimmt: Geht nach dem 1. Januar 2024 eine Anlage, die mit fossilen Brennstoffen betrieben wird, kaputt, muss sie durch eine klimafreundlichere Variante ersetzt werden. Danach kam der Aufschrei: Für viele Haus- und Wohnungseigentümer:innen würde diese Bestimmung eine unbillige Härte bedeuten. 

Aus dem Bemühen, solche Härtefälle zu vermeiden, wurde ein Bürokratieungetüm an Gesetzestext geboren. So heißt es beispielhaft in Paragraf 71 Absatz 9 des novellierten Gebäudeenergiegesetzes: „Der Betreiber einer mit einem flüssigen oder gasförmigen Brennstoff beschickten Heizungsanlage, die nach Ablauf des 31. Dezember 2023 und vor Ablauf des 30. Juni 2026 im Fall des Absatzes 8 Satz 1 oder vor Ablauf des 30. Juni 2028 im Fall des Absatzes 8 Satz 2 oder vor Ablauf von einem Monat nach der Bekanntgabe der Entscheidung nach Absatz 8 Satz 3 eingebaut wird und die nicht die Anforderungen des Absatzes 1 erfüllt, hat sicherzustellen, dass ab dem 1. Januar 2029 mindestens 15 Prozent, ab dem 1. Januar 2035 mindestens 30 Prozent und ab dem 1. Januar 2040 mindestens 60 Prozent der mit der Anlage bereitgestellten Wärme aus Biomasse oder grünem oder blauem Wasserstoff einschließlich daraus hergestellter Derivate erzeugt wird. § 71f Absatz 2 bis 4 ist entsprechend anzuwenden.“ 

Wer trotz oder gerade ausführlichster Gesetzesvorgaben sein vermeintlich verbrieftes Recht verletzt sieht, der klagt es ein. Urteile machen einen Sachverhalt nicht selten nochmals komplizierter. Hinzu kommt der Zeitverzug, den eine rechtliche Auseinandersetzung bedingt. Jeder auch nur mittelbar Betroffene kann eine Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen in Gang setzen. Selbst eine den Behörden vom Gesetz zugestandene Ermessensausübung kann noch kassiert werden. Dadurch hat sich in den Verwaltungen ein Verlangen nach detaillierten gesetzlichen Handlungsvorgaben etabliert. Doch je mehr geprüft und abgeglichen werden muss, desto länger dauert am Ende ein Verfahren. 
Und es gibt es noch einen weiteren Bürokratietreiber. Es ist das vorherrschende Bedürfnis nach planbarem, möglichst risikolosem Tun. Daher schätzen es mitunter selbst Unternehmen, dass ihnen detaillierte Normen vorgegeben werden. Denn wer sie strikt befolgt, kann sich später damit verteidigen, alles richtig gemacht zu haben. 

Damit stellt sich die Gewissensfrage an uns alle: Können wir einzig den Gesetzgeber in die Verantwortung nehmen, bürokratischen Strukturen zu vereinfachen? Nein. Die Politik muss zwar Antreiber in der Sache sein. Wir erwarten zu Recht verständlich formulierte und ohne viel Aufwand zu befolgende Gesetze. Doch wir, die Adressaten dieser Gesetze, bilden die Basis des Bürokratieabbaus. Eine effiziente Bürokratie setzt unsere Akzeptanz voraus, dass nicht immer alles geregelt sein muss. Ebenso müssen wir die Bereitschaft mitbringen, dass kleinere persönliche Nachteile, die auf Grund von Gesetzeslücken oder Ermessensspielräumen entstehen, auch mal hinzunehmen sind.

   

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