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Titelthema - Leitartikel

EU, Hauptsache. Europa-(hatte die)wahl 2024:

Die europäischen Institutionen in Brüssel und Straßburg sind Symbole der Grundidee der europäischen Idee: Aussöhnung und Verbundenheit zwischen Feinden nachdem Ende des 2. Weltkriegs. Brüssel und Straßburg sind aber auch Symbole dafür, dass Europa neu aufbrechen, der Standort seine Kraft wiederfinden muss. Die Bilanz der letzten fünf Jahre EU-Politik ist bei weiten nicht nur positiv. Nach der EU-Wahl gilt es also, (wieder) Farbe nach Europa zu bringen. Denn wenn die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union (EU) im Juni 2024 das Europäische Parlament gewählt haben, werden entscheidende Weichen für die europäische Wirtschaft gestellt. Damit Europa im globalen Vergleich nicht abgehängt wird, braucht es unter anderem wettbewerbs­fähige Energiepreise und wirkungsvolle Bürokratiebremsen.

Von Binnenmarkt über Bürokratieabbau bis Handelsabkommen – nach der Europawahl geht es konkret um die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Europa sowie um den Erhalt und die Stärkung der globalen Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft. Oberstes Ziel muss die Verbesserung der Standortattraktivität Europas für Unternehmen sein, denn in den letzten Jahren hat diese massiv an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Eine Ursache: zu umfassende Regulierungen durch die EU und das Fehlen effektiver Schritte, um Unternehmertum in der EU zu erleichtern. Die EU hat aber eine starke wirtschaftliche Basis und durch den integrierten Binnenmarkt ebenfalls im globalen Vergleich viele Vorteile. Wir brauchen daher nun Maßnahmen, die in Zukunft für erschwingliche und sichere Energie sorgen, die Planungssicherheit für Investitionen und Zukunftstechnologien wie Künstliche Intelligenz schaffen, die Fachkräfte sichern und die überbordende Bürokratie abbauen.

Bürokratie hemmt Innovationskraft

Dringender Handlungsbedarf besteht vor allem beim Bürokratieabbau. Das zeigt beispielsweise die „One in, one out“-Regel, die die EU-Kommission als Ziel ausgegeben hatte und die als dringend benötigte Bürokratiebremse dienen sollte. Mit der Umsetzung kommt die EU jedoch nicht voran – im Gegenteil.

„Statt weniger kommen immer neue Vorgaben aus Brüssel.“

Das zeigt sich etwa am Beispiel Klimaneutralität: Um das europäische Nachhaltigkeitsziel zu erreichen, braucht es nicht nur einen massiven Ausbau erneuerbarer Energien und ihrer Infrastruktur sowie eine sichere, günstige und grüne Energieversorgung für die gesamte Wirtschaft. Gleichzeitig müssen Bürokratielasten reduziert werden, damit Betriebe mehr Ressourcen für die klimagerechte Umgestaltung ihrer Geschäftsaktivitäten haben. Doch davon ist Europa gegenwärtig weit entfernt: Stattdessen sind durch den europäischen Green Deal, mit dem die EU-Mitgliedstaaten bis 2050 klimaneutral werden wollen und die wirtschaftliche Transformation anstreben, für die Unternehmen zahlreiche neue Berichts- und Informationspflichten entstanden.
Nachbesserungen sind auch an anderen Stellen dringend erforderlich: Einige Gesetzesakte wurden sehr schnell und ohne angemessene Folgenabschätzung erlassen, insbesondere die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Gesetzen wurden nicht geprüft. Daher sieht man Inkohärenzen, teilweise Zielkonflikte, die Unternehmen, aber auch Behörden bei der Umsetzung auffallen. Beispiele sind der CO2-Grenzausgleichs­mechanismus CBAM oder die EU-Medizinprodukteverordnung aus der vorherigen Legislatur, für die es noch keine Nachbesserung gibt. Hier müssen die Gesetzgeber ehrlich sein und schauen, was funktioniert und wo nachgebessert werden muss.
Ein weiteres drängendes Thema, dem sich die EU in den kommenden fünf Jahren verstärkt widmen muss, ist der europaweite Fachkräftemangel. Dabei wird insbesondere die verbesserte Rekrutierung von Arbeits- und Fachkräften aus Drittstaaten durch beschleunigte und vereinfachte Verfahren stärker in den Fokus rücken. Auch die Arbeitsmobilität innerhalb der EU, die Förderung von lebenslangem Lernen und einer praxisnahen beruflichen Bildung sowie die Förderung der digitalen Transformation in der Bildung inklusive Praxishilfen für nationale Umsetzungen der relevanten EU-Rechtsakte wie dem „AI Act“ und dem „Data Act“ werden eine Rolle spielen.

„Think small first“: KMU hoffen auf konkrete Entlastungen

Vor allem kleinere und mittlere Unternehmen erhoffen sich, stärker in den Dialog über neue Gesetzesvorhaben auf EU-­Ebene mit einbezogen zu werden. Denn häufig wird die Umsetzbarkeit neuer Regelungen für den Mittelstand nicht mitgedacht. Die aktuelle EU-Kommission hat Entlastungen für KMU lediglich angekündigt und einige Regulierungen vor­geschlagen, die vereinfacht werden können. Wir hoffen, dass die nächste Kommission das ausbaut, von den Ankündigungen hin zu konkreten Entlastungen. Neue Gesetze sollten dann nach dem sogenannten „Think small first“-Prinzip vorab auf ihre Auswirkungen und Umsetzbarkeit für KMU geprüft werden.

Die Herausforderungen sind zahlreich, doch es bieten sich viele Ansatzpunkte für eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Besinnt sich Europa auf die Stärke des Binnenmarktes und verliert sich nicht in kleinteiliger Regulierung, können die entscheidenden Weichen gestellt werden.

„Eine geeinte EU ist nach wie vor die beste Chance, um im globalen Wettbewerb zu bestehen. Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe der Glut.“

…also: „Hauptsache EU“, nur besser als im Moment.

Autor:
Hinrich Schwarze
IHK Lippe

   

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