Lippe Wissen und Wirtschaft, Ausgabe 1/2022DruckenZurück


Titelthema

bedeutet nicht automatisch Leistungsminderung

Behinderung

Jennifer Rapier möchte als Lotsin Brücken bauen. Die neue Inklusionsberaterin der IHK steht Mitglieds-Unternehmen mit Rat und Tat zur Seite. Barrieren entstehen im Kopf. Vorurteile auch. Oft ist es aber auch einfach Unwissenheit, wenn Personaler auf der Suche nach Arbeitskräften nicht auch an Menschen mit Behinderung denken. „Behinderung bedeutet nicht automatisch Leistungsminderung“, lautet die Botschaft von Jennifer Rapier. Anfang diesen Jahres ist die 32-Jährige bei der IHK Lippe zu Detmold als Inklusionsberaterin angetreten, um als Lotsin und Brückenbauerin Arbeitgebern mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Und um mit sämtlichen Vorurteilen aufzuräumen. Die vom LWL-Inklusionsamt Arbeit als „Einheitliche Ansprechstelle für Arbeitgeber“ (EAA) finanzierte Stelle gab es bis dato gar nicht. Im Gespräch erzählt Jennifer Rapier, warum sie diese Herausforderung als Pionierin gerne annimmt und welche Ziele mit dem Projekt gesteckt worden sind.

IHK: Frau Rapier, einen neuen Job an einem Arbeitsplatz anzunehmen, den es vorher noch gar nicht gab, das klingt spannend.
Jennifer Rapier (lacht): Das ist es auch. Ich komme ursprünglich auch nicht aus dem Bereich Wirtschaft. Von der Arbeit der IHK wusste ich lediglich, dass es ein bunter Blumenstrauß an Arbeit in vielen Bereichen ist.
IHK: Trotzdem haben Sie sich auf ungewohntes Terrain gewagt. Warum?
Rapier:  Ich wollte mich neu orientieren. Zuvor habe ich als pädagogische Kraft an einer Grundschule gearbeitet und dort im Ganztag eine Gruppe geleitet. Die dort gemachten Erfahrungen lassen sich auch in den neuen Job einbringen.
IHK: Wie haben Sie sich im Bewerberfeld durchgesetzt? Mit welchen Kompetenzen konnten und können Sie punkten?
Rapier: Ich bringe Motivation, Offenheit, Empathie und Kommunikationsstärke mit. Als Mutter von drei kleinen Kindern bin ich zudem ein Organisationstalent (lacht). Aber vor allem habe ich richtig Lust auf die neue Aufgabe und hänge mich da voll rein.
IHK: Worin genau bestehen nun Ihre Aufgaben als Inklusionsberaterin?
Rapier: Ich fungiere als Wegweiserin für die Mitgliedsunternehmen der IHK. Meine Hauptaufgabe liegt darin, potenzielle Arbeitgeber durch Information und Beratung für die Beschäftigung und Ausbildung von behinderten Menschen zu sensibilisieren. Dazu gehe ich mit Offenheit und Empathie auf die Personalverantwortlichen zu. Gleichzeitig möchte ich ihnen auf Wunsch die Überwindung bürokratischer Hürden abnehmen.
IHK: In Deutschland gilt die Beschäftigungspflicht, Unternehmen mit mehr als 20 Arbeitsplätzen müssen fünf Prozent dieser Plätze mit schwerbehinderten Menschen besetzen. Viele zahlen jedoch alternativ eine Ausgleichsabgabe.
Rapier: Ja, leider ist das so. Diese Abgabe soll demnächst noch um eine weitere Stufe erweitert werden. Dadurch sollte das Interesse am Thema bei den betroffenen Unternehmen wachsen. Man muss sich mal verdeutlichen, dass zehn Prozent der deutschen Bevölkerung eine Behinderung hat. Das ist keine Randgruppe.
IHK: Die wenigsten kamen mit einer Behinderung zur Welt.
Rapier: Richtig. Sie wurden durch Krankheiten oder Unfälle behindert. Oft erst im Erwerbsleben. Viele haben organische Einschränkungen, die nicht sichtbar sind. Psyche, Krebs, Schlaganfall oder chronische Leiden: Behinderung ist ein weites Feld und es kann jeden treffen.
IHK: Warum ist das Thema dann immer noch nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen?
Rapier: Es fehlen in vielen Fällen die Berührungspunkte. Ich möchte in meiner Funktion Vorurteile, die bei Unternehmen bestehen, wie: Menschen mit Behinderungen seien nicht leistungsfähig, sie seien ständig krank, man könne sie nicht kündigen und so weiter, abbauen.“
IHK: Haben Menschen mit Behinderung nicht tatsächlich Sonderrechte in Sachen Kündigung?
Rapier: In den ersten sechs Monaten besteht gar kein Kündigungsschutz. Danach muss das Inklusionsamt einer Kündigung zustimmen, was es in fast allen begründeten Fällen auch tut. Es gibt auch die Möglichkeit, vorab zeitlich begrenzte Praktika sowie Probebeschäftigungen zu vereinbaren, um sich gegenseitig zu beschnuppern und zu gucken, ob es klappt.
IHK: Welche Vorteile sehen Sie für Arbeitgeber in der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung?
Rapier: Viele. Sie bekommen qualifizierte Fachkräfte. Menschen mit Behinderung sind Profis in Sachen Teamarbeit, weil sie es gewohnt sind, um Hilfe zu fragen. Von der erhöhten Motivation ganz zu schweigen. Vielfalt zahlt sich aus, daraus können neue kreative Denkansätze entstehen. Soziale Verantwortung und Barrierefreiheit ist zudem gut für das Image einer Firma.
IHK: Wie sieht es mit finanziellen Hilfen und Fördermitteln aus?
Rapier: Auch da gibt es unzählige Möglichkeiten. Von einer Übernahme der Lohnkosten während einer Probebeschäftigungen über Prämien für Langzeitbeschäftigungen bis hin zu Assistenzen wie beispielsweise Gebärdensprachdolmetscher.
IHK: Könnte man von einem ungenutzten Pool an Arbeitskräften sprechen?
Rapier: In der Tat. Die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderungen ist fast doppelt so hoch wie die Nichtbehinderter, trotz gleichwertiger oder sogar höherer Qualifikation. Und es gibt gut 900.000 Menschen mit Schwerbehinderung in Westfalen-Lippe.
IHK: Sie werden nun die Unternehmen in allen Belangen rund um das Thema beraten. Aber wie kommen am Ende Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammen?
Rapier: Dazu stelle ich dann den Kontakt her zu den zuständigen Instanzen wie dem Integrationsfachdienst, dem Jobcenter oder der Agentur für Arbeit. Dabei kann ich auf ein enges und funktionierendes Netzwerk zurückgreifen. Ich kümmere mich aber auf Wunsch gerne weiter um den Arbeitgeber, auch über die Beratung und Antragstellungen hinaus.
IHK: Werden Sie auch aktiv auf potenzielle Unternehmen zugehen?
Rapier: Auf jeden Fall. Ich habe die ersten Monate genutzt, um mich auf die Aufgabe vorzubereiten und zu netzwerken. Dank Schulungen und Seminaren kann und konnte ich mir viel Handwerkszeug aneignen. so dass ich nun mit einem gut ausgestatteten Koffer auch proaktiv losziehen kann. Interessierte Unternehmen können mich natürlich jederzeit gerne kontaktieren.
IHK: Welche Erwartungen haben sie an Ihren Job?
Rapier: Im Idealfall kann er einen Beitrag dazu leisten, dass viele Win-win-Situationen entstehen. Inklusion ist eine herausfordernde gesellschaftliche Aufgabe. Aber dieses Pilot-Projekt kann richtig gut werden. Da bin ich mir sicher.

Das Interview führte
Sandra Castrup
Freie Journalistin